Unser Weg ins selbstbestimmte Lernen

Angestoßen hat diesen wahrlich umwälzenden Bildungs-Prozeß unser Ältester, Janko, der vor Eintritt in die Oberstufe feststellte, dass er in der Schule einfach zu wenig Gelegenheit hat, die Dinge, für die er sich begeistert, zu erlernen, gleichzeitig aber durch den langen Schultag auch kaum noch Energie übrig hat, dies anschließend zu Hause zu tun. Jedoch war ich zum Zeitpunkt seiner Erkenntnis als Mutter noch voll in Norm-Bahnen gefangen und verweigerte ihm schlichtweg den Ausstieg aus der Schule nach Erreichen der Mittleren Reife mit Oberstufenquali, da er keinerlei Alternative "zu bieten" hatte, sprich den Wunsch nach einer Ausbildung oder überhaupt irgendeine Zukunftsmusik. Dass die Jugendlichen vor lauter Belehrtwerden (und das 8/9/10 Unterrichtsstunden am Tag) nicht unbedingt dazu kommen können, herauszufinden, welches nun ihr eigener Weg sein soll, war mir gar nicht so klar: "Kein Ausbildungsplatz, kein soziales Jahr, zum Glück noch zu jung für die Bundeswehr - vergiß es! - Du bleibst erst einmal in der Schule..."

Janko jedoch ging schon immer seinen Weg, stetig und stets der eigenen Nase nach, ohne sich von Konventionen und Gruppenzwängen großartig beeindrucken zu lassen. So gelang es ihm, mit Beharrlichkeit, Recherchen und einigen Links aus dem Internet irgendwann während der 11. Klasse zu mir durchzudringen, mir seine Ansichten, was Lernen betrifft, klar zu machen. Das, was ich an seiner Haltung zunächst als leicht arrogant abgetan hatte ("Mama, die Schule bringt mir nichts! Hier lerne ich nichts, was mich wirklich interessiert! Was mich interessiert, lerne ich viel effektiver allein."), bekam bei näherer Betrachtung einen dicken wahren Kern. Janko hat sich immer mehr für andere, selbstgewählte Lerninhalte interessiert als für die Schulfächer. Dadurch hatte er spätestens seit später Unterstufe den Ruf, ziemlich faul zu sein. Betrachtete man das aber genauer, konnte davon überhaupt keine Rede sein - hatte er doch z.B. im späteren Kindesalter ein wirklich überdurchschnittliches Wissen über Mittelalter, Ritter und Wikinger erworben. Dies ging sogar so weit, dass er ein Kettenhemd herstellte, nachdem er sich auf Mittelaltermärkten und in Büchern die Verkettungstechniken abgeschaut hatte. In späteren Jahren setzte sich ebendiese Tendenz fort in Bereichen wie Geschichte, Ernährung, Muskelaufbau, Politik u.a. Nur eben nicht in Englisch, Französisch, Biologie und so fort... -"Der Jung' ist halt stinkefaul!"

Ähem - halt, das stimmt so nicht! Er bestimmt nur ziemlich konsequent selber, wofür er sich einsetzt und wofür nicht.

 

Okay, also mich hatte er überzeugt und mit der Nase darauf gestoßen, dass man tatsächlich wesentlich effektiver lernt, weil man sich für etwas begeistert und nicht etwa, weil es im Lehrplan der 11. Klassen steht.

Ist es mir nicht genauso ergangen? Was habe ich vom Schulstoff eigentlich behalten? - Großes Latinum  gemacht, kann keine zwei Worte Latein mehr, in Mathe war ich in der Oberstufe ganz gut, heute kann ich teilweise meinem Siebtklässler nicht auf Anhieb helfen, in Chemie, Politik, Physik und Geschichte hab' ich schon damals völlig gelangweilt die Stunden abgesessen und mir in Geschichte in einem Halbjahr rein durch die Bereitschaft, Textabschnitte aus dem Unterrichtsbuch vorzulesen, eine "2" erarbeitet. Fachlich war ich 'ne Null, vom Inhalt mitbekommen hab' ich nix. Hauptsache schön gelesen...

Dafür besitze ich aber eine große Begeisterung und ein Händchen für Tiere, habe schon als Kind Spatzen- und Igelbabies aufgezogen und in den letzten Jahren auf dem Gebiet durch meinen Einsatz im Tierschutz rasant dazu gelernt. Wie von selbst und mit Riesen-Freude. Eine wachsende Hundeschar und Gezwitscher aus allen Ecken und Winkeln des Hauses zeugen davon. Weiterhin wie schon früher meterweise Bücher gelesen, zu allen möglichen mir interessant erscheinenden Themen. Eine Ausbildung zur Hundephysiotherapeutin erfolgreich abgeschlossen. Alles selbst ausgewählt und Lernen dabei nie als Qual und Zeitverschwendung empfunden wie so manchen Schultag, sondern als intensive Bereicherung.

Mich hatte Janko also auf seiner Seite, blieb "der harte Brocken Papa", der mit häppchenweise Freilerner-Kost, hier einem Film, dort einem Buch, hier einem Vortrag, dort einem Publikumsgespräch gaaaaaanz allmählich angefüttert werden konnte und nach und nach seine Scheu vor dem unbekannten Terrain verlor. Janko machte Nägel mit Köppen und verließ nach dem 1. Halbjahr der 11. Klasse die Schule, z.T. unter verständnislosen (aber zuweilen wohl etwas neidischen) Kommentaren seiner Mitschüler - unglaublich, da hatte er ganz knapp die Quali für die Oberstufe geschafft und dann machte er nix draus... Was willst Du denn bloß später mal machen ohne Abi? Was willst Du denn überhaupt jetzt machen?

Wir meinen - das wird sich schon ergeben, Janko wird seinen Weg finden, davon sind wir überzeugt! Und zwar durch leben und lernen.

Mia, die Mittlere unserer drei Kinder, hatte das unverschämte Glück, dass sie mit Pflichtbewusstsein und Bestnoten, ohne allzu großen Arbeitsaufwand zu betreiben, nur so durch die Schule flutschte, im zweiten Kindergartenjahr den anderen Kindern Bücher vorlas, in der Grundschule eine Klasse übersprang und gerade eine sehr gute Mittlere Reife erlangte (ohne dafür mehr als vielleicht höchstens ein einziges Fingerglied krumm gemacht zu haben). (Ich weiß, dass ihr diese Auflistung bestimmt ein bisschen peinlich wäre, das bleibt einfach unter uns, okay? :) ) Erkauft wurden diese Erfolge allerdings mit großer Erschöpfung nach den langen Schultagen, Dauerkopfschmerzen, dem Alltagsgefühl gähnender Langeweile und einer einzigen großen Sehnsucht - der Sehnsucht nach dem Schulgong. Mias erleichterte Entscheidung im Zuge unserer Entwicklung hin zur freien Bildung: "Dann mach' ich einfach später das Abi als Externe und jetzt reisen und leben wir erstmal."

Jakob, unser Junior, hat das Pech, nicht wirklich gruppenkompatibel zu sein. Es scheint bei ihm so eine Art vollautomatischer Widerspruchs-Geist eingebaut zu sein, der ihm beständig zuflüstert: "Was alle machen, machst Du gerade nicht!" Das zog sich schon seit frühester Babyzeit durch die Kindergarten- und Grundschulzeit hindurch bis in die Jahre auf der weiterführenden Schule. Er hinterließ eine wüste Spur aus verzweifelten Eltern (also, den eigenen), ratlosen Erzieherinnen und sich die Haare raufenden LehrerInnen. Seine schulischen Leistungen sanken gen unterirdisch. Was aber ungleich dramatischer war, war die Tatsache, dass mit jedem Tadel, mit jeder Zurechtweisung ein Stückchen des Jungen abzubröckeln schien und er immer grauer und gebeugter wirkte. Auch Ärzte und Therapeuten, zu denen wir geschickt wurden, schafften es einfach nicht, diesen Widerspenstling einzuebnen, ihn der Schulumgebung anzupassen - es war aller-, allerhöchste Zeit für uns, diese Umgebung zu verlassen, damit noch etwas von dem kleinen und eigentlich groß werden wollenden Menschen übrig blieb.

 

Das Konzept des freien, selbstbestimmten Lernens geht davon aus, dass dem Kind und ganz grundsätzlich dem Menschen ein natürliches Bedürfnis, zu lernen, innewohnt und es in einer fruchtbaren und anregenden Umgebung seine Persönlichkeit individuell optimal entfalten kann. Diese These wird von namhaften Hirnforschern und Entwicklungspsychologen unterstützt. So wie sich in den ersten Lebensjahren Laufen, Sprache und vieles andere entwickeln, weil das einfach zum Leben dazugehört und auch, weil sich an Vorbildern/Mentoren orientiert wird, wo das möglich ist, so kann sich auch alles andere entwickeln, was benötigt wird. Das, was ein Mensch aus eigenem Antrieb lernt, in was er sich intensiv vertieft, das wird viel eindrücklicher Teil seines Lebens, ja, seiner Person, als was in ihn hineingefüllt werden soll, weil an irgendeinem Büroschreibtisch entschieden wurde, dass das nun ein wichtiger Lerninhalt für alle Kinder in diesem Alter sein soll.

Die Schule als Institution ist ja entwicklungsgeschichtlich gesehen eine ziemlich junge Erscheinung und auch vorher wurden kleine Menschen groß und lebten ihr Leben.

In Deutschland ist der Weg des selbstbestimmten Lernens weder vorgesehen noch erlaubt, anders als in vielen, vielen anderen  Ländern. Die vollständige Kontrolle durch den Staat scheint hierzulande wichtiger als das Zutrauen in den Menschen als eigenständiges Individuum .

Ich fühle mich selbstredend in erster Linie meinen Kindern  nahe und möchte sie in allen Aspekten ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Wenn dabei die Grenzen des für unser Heimatland Möglichen überschritten werden, weil dort bildungstechnisch keinerlei Vielfalt zugelassen wird, dann ist für mich die Konsequenz, die einengenden Bahnen zu verlassen und meinen Kindern Vielfalt zu ermöglichen.

 

Wir wenden uns nun ganz bewusst von dem "Belehrt-Werden" ab und sind neugierig, was das Lernen-Wollen alles zutage fördern wird.  

 

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Kommentare: 6
  • #1

    Malinka (Donnerstag, 03 September 2015 13:12)

    :-) Ist "eingebauter Widerspruchsgeist" ansteckend? Viel Erfolg euch und ich würde euch wirklich gerne kennenlernen. Rückweg vielleicht?

  • #2

    Markus Hagenschulte (Freitag, 11 September 2015 11:36)

    Mal ehrlich, es besteht doch Schulpflicht!

  • #3

    Anja Möbes (Freitag, 11 September 2015 13:15)

    #Feelfreetobefree: Sorry, ich weiß noch immer nicht, wie man hier auf Jimdo Kommentare beantworten kann, daher als Kommentar:
    Ja, in Deutschland haben wir nicht nur Schulpflicht, sondern sogar Schulanwesenheitszwang. Daher leben wir auch nicht mehr dauerhaft in Deutschland, in ganz vielen anderen Ländern geht es nämlich viel weniger zwanghaft zu. :)

  • #4

    Jonas (Dienstag, 06 Oktober 2015 08:08)

    Liebe Anja,
    Vielen Dank für deine ausführlichen Erzählungen, es ist schön zu lesen (und zu sehen) was ihr so erlebt.
    Das Gefühl, in der Schule meine Zeit zu vergeuden hatte ich auch permanent und 90% des Stoffes brauche ich auch definitiv nicht mehr.
    Andererseits glaube ich, dass der lerndrang, den ja wirklich jeder hat, nicht allein genug ist. Manchmal braucht es in meinen Augen einen gewissen Druck von außen, um seine Komfortzone zu verlassen und sich mit Dingen zu beschäftigen, die man sonst langweilig oder überfordernd gefunden hätte. Sonst verschenkt man eventuell viel geistiges Potenzial. Und für diese Anreize ist Schule (in welcher Form auch immer) sehr gut geeignet. Ich selbst hatte nie Lust auf Barockdichtung oder Antike Geschichte, wäre aber jetzt auf jeden Fall sehr viel eingeengter in meinen Sichtweisen, wenn ich nicht gezwungen gewesen wäre, mich mit diesen Dingen zu befassen.
    So viel nur zu meiner Sicht auf dieses Thema :)

    Viele Grüße aus Berlin,
    Euer Jonas

  • #5

    Nia (Mittwoch, 07 Oktober 2015 19:51)

    Hallo Anja!
    Danke für den Einblick in euer Leben. Habe gerade eben eure Website entdeckt, finde ich klasse! Ich habe auch nach dem 1. Halbjahr der 11. Klasse 'Goodbye' zur Schule gesagt und gehe seit dem meinen individuellen Weg. Ich bereue nichts, im Gegenteil es hat mir so viel gebracht! Es ist traurig das viele meiner Freunde sich jeden Tag auf's Neue in die Schule quälen und nichts machen, sich nicht getrauen endlich zu ihren Wünschen und Sehnsüchten zu stehen, nur weil es "die Gesellschaft es nicht zu lässt". Freilernen ist einfach das natürlichste der Welt, ich kann nicht verstehen was es daran nicht zu kapieren gibt...
    Viele liebe Grüße, Nia
    P.S. Ich würde euch gern mal kennen lernen! Hier bei mir gibt es kaum Freilerner-Familien.

  • #6

    Janko #feelfreetobefree (Samstag, 10 Oktober 2015 11:49)

    Hallo Nia,
    da wir nicht wissen wie man direkt auf Kommentare Antwortet, schreibe ich jetzt einfach einen kurzen Kommentar.
    Schön dass du die Seite gefunden hast, wenn du Facebook hast, können wir uns vielleicht leichter darüber austauschen und kennen lernen.

    Viele Grüße und sonnige Tage aus Südfrankreich
    von uns allen ^^